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Vortrag Christoph Bläsi zum eBook bei der Tagung Literatur2.0 der evangelischen Akademie Loccum

September 19th, 2009 · 1 Comment · digitales Publizieren, DRM, E-Books, eBook, Publizieren, Urheberrecht, Verlage

UPDATE 21. Sept.: Auf meine Nachfrage, ob ich seine Aussagen korrekt dargestellt habe, merkt Christoph Bläsi an, dass „man sagen könnte […], dass durch die Nachzeichnung im Detail vielleicht meine Hauptthesen etwas aus dem Fokus geraten“. Daher hier noch einmal explizit, wie von ihm selbst zusammengefasst:

  • In bestimmten Funktionen und in bestimmten „Formen“ wird das Buch noch lange kein Auslaufmodell sein.
  • Die Verbreitung von E-Books wird keine nennenswerten Auswirkungen auf Literatur und Literaturrezeption haben.
  • Es gibt natürlich und zum Glück erkennbare Tendenzen zu neuen Formen von Literatur und Literaturrezeption – aber diese spielen sich eher um andere mobile Geräte und um  „vollfunktionale“ Rechner ab.

Ab hier das ursprüngliche Posting:

Auf der Tagung Literatur2.0 der evangelischen Akademie Loccum hat der Mainzer Buchwissenschaftler Christoph Bläsi einen sehr interessanten Vortrag zum Thema eBooks gehalten. Da ich nicht auf das Tagungsprotokoll warten will, hier einige Stichworte.

Bläsi fragt: Ist das Buch ein Auslaufmodell? – und antwortet:

In den Naturwissenschaften (und der Medizin) spielt Gedrucktes für Originalarbeiten schon jetzt praktisch nur noch als Abrechnungseinheit und Archivierung einen Rolle, am ehesten noch in der Form von Lehrbüchern, d.h. in der Ausbildung.
Wie sieht es aus mit dem Buch als „performativer Langtext“ bzw. „long-form narrative for immersive reading“ (zwei Versuche, das belletristische Buch besser zu definieren)?

Zwei Antworten:

  • eher gut > v.a. ist es wichtig für die Introspektion (ich lese jetzt solche Art von Texten und weiß nicht, warum ich das in 20 Jahren nicht auch machen sollte);
  • eher schlecht > es gibt Befunde aus Langzeitstudien, die nahe legen, dass sich das Leseverhalten stark ändert, hin zu Zooming, Zapping, Pausenlesen, Zwischendurchlesen, auch Switching (das Lesen verschiedener Bücher „gleichzeitig“) etc.

Bläsi weist darauf hin, dass der Buchbegriff selber die Antwort auf die Frage determiniert. Die Unesco etwa definiert das Buch als Veröffentlichung mit mindestens 49 Seiten (außer Coverpages). Für diese Form von Buch ist die zu erwartende Entwicklungstendenz eher verhalten, weil

  • digital natives ein anderes Leseverhalten haben;
  • es sich dem Bestreben widersetzt, Medienbrüche zu vermeiden (kein Copy&Paste möglich etc.);
  • neue Technologien wie das ePaper neue Möglichkeiten schaffen;
  • es neue Leseweisen gibt.

Verwendet man einen Buchbegriff, der das Buch als Artefakt oder immaterielle Erscheinung definiert, das / die bestimmte Funktionen erfüllt (Transport von Texten, Bildern, mit bestimmten Eigenschaften, zur Entlastung des individuellen oder kollektiven Gedächtnisses, zur Herstellung von Öffentlichkeit bzw. zu Unterhaltung, Bildung, Information, Erbauung etc.), dann sieht es anders aus. Zur Introspektion: (wer sind „wir“?) ist und bleibt es wichtig, aber auch, um den Ansprüchen einer demokratischen Wissensgesellschaft gerecht zu werden. Andererseits gibt es die Erkenntnisse der zeitgenössischen Leserforschung.

Bläsi: Man darf nicht bildungsbürgerlich vernagelt sein, man kann auch mit etwas anderem als Büchern komplexe Inhalte vermitteln; ich pflege die „Unschuldsvermutung“ gegenüber digital natives bis zum Beweis des Gegenteils (dass sie keine komplexen Sachverhalten verstehen).

Um (Gegenwarts-)Literatur zu bestimmen, verwendet Bläsi interessanterweise eine Definition der Wikipedia und verweist ironisch darauf, dass seinen Studierenden das nicht erlaubt wäre. (Gegenwarts-)Literatur ist daher definiert als als „in einem engeren Sinne der Bereich von Texten, die Gegenstand der Kunstdiskussion werden“. eBooks wiederum sind digitale Dateien mit buchähnlichen Inhalten in einem entsprechenden Format, die zunehmend in erster Linie für das Lesen auf eBook-Geräten gedacht sind.

Bläsi erinnert an den Sony Bookman und das Gemstar Rocket eBook (Bilder), die vor etwa zehn Jahren auf den Markt kamen – damals wurde das Ende der Gutenberg-Galaxis vorausgesagt, aber es fand nicht statt. Im Unterschied dazu ist die Situation jetzt anders durch Lesegeräte, die neue Technologien einsetzen, z.B. E-Ink (die andere Darstellung, die zum einen die Augen schont, zum anderen sehr viel Energie spart), das Whispernet (den ständigen Zugang zum Netz mit dem eBook). Als kommt nächstes möglicherweise die Konvergenz mit PDAs, Smartphones etc.
Weiterhin gibt es ein großes Angebot an Titeln: z.B. mehr als 252.000 bei amazon.com (20.3.2009) und mehr als 19.000 bei ciando.de (Januar 2009).

Zuletzt: das Engagement von Akteuren wie Amazon, Google und Sony oder auch Libri oder Thalia verändert den Markt.

Eine interessante Studie zur Marktdurchsetzung von eBooks sei die von Kirchner & Ruprecht (kein Link zu finden außer einer Erwähnung bei boersenblatt.de), die davon ausgehe, dass es bis 2010 etwa 80.000 Reader geben wird und bis 2013/14 etwa eine Million. Die zu Grunde liegende Annahme sein, dass die Diffusion entsprechend MP3-Playern verlaufe. Daher sei mit einem jährlichen Absatz von etwa 830.000 eBooks bis Mitte 2010 zu rechnen und etwa 10 Millionen bis 2013. Das wäre jedoch nur ein Anteil von etwa 3 Prozent am Buchmarkt (es wird davon ausgegangen, dass das Kaufverhalten ähnlich ist wie bei gedruckten Büchern, also 11 Buchkäufe pro Jahr pro Reader-Besitzer.

Interessant sei in dem Zusammenhang auch, dass die Buchbranche die größte Kreativbranche in Deutschland sei, in der Kunden für Inhalte zahlen.

Welche Entwicklungen wird es also vermutlich geben?

Bläsi nennt nicht-disruptive Entwickungen:

  • es wird weitere Editionen verschiedener Buchgattungen geben;
  • Distribution und Ökonomie ändern sich: möglicherweise wird es niedrigere Preise geben (der Preisdruck wird größer wegen des Wegfalls großer Teile der Produktion und höherer Transparenz);
  • der stationäre Buchhandel wird an Bedeutung verlieren: sinnvolle „körperliche“ Zusatzservices seien nicht erkennbar, es gebe keine durch persönliche Anwesenheit zu bewertende Eigenschaften. Trinkbrunnen und Espressomaschinen, und was es sonst noch gibt, spielen beim Download von Dateien keine Rolle; es wird kaum ein Kunde einsehen, warum er dafür in die Stadt gehen soll. Hier sagt Bläsi, dass es nicht ganz klar sei, ob es sich dabei schon um eine disruptive Entwicklung handelt.
  • es kann ihnen niemand garantieren, dass sie das heute gekaufte eBook in zehn Jahren noch lesbar ist (DRM);
  • es gibt keine offensichtliche Signalisierungsfunktion (sie lesen die Habermas- oder Adorno-Gesamtausgabe im Zug und jeder denkt: sie sind ein toller Hecht – das geht mit dem eBook nicht);
  • Bücher als Teil der Innenausstattung von Häusern lassen sich mit dem eBook nicht realisieren;
  • die Bedeutungsfunktion eines Buchs verändert sich, denn ein Buch ist nicht nur der Text, sondern auch, welche Mühe der Verlag sich gemacht hat in der ästhetische Gesamtanlage;
  • sogar die Vertriebsfunktion hat einen Bedeutung: ein im Eigenverlag hektografiertes und zusammengebundenes Buch ist was anderes als ein in einem renommierten Verlag erschienenes Buch;
  • es gibt eine niedrigere Schwelle für Urheberrechtsverletzungen.

Disruptive Entwicklungen:

  • Hypertext nötig für „konstitutive“ Nicht-Linearität;
  • Multimedia für Ausdrucksmöglichkeiten über geschriebene Texte und Bilder hinaus;
  • Online / Web („2.0“) für Teilhabe, Kollaboration, Fertigstellung in Teilen, auch Umgehen von Vermittlern.

Diese neuen Möglichkeiten werden aber auf eBook-Readern so schlecht realisiert (weil sie als konservatives Medium explizit nicht darauf angelegt sind), dass eBooks diese nicht (nennenswert) befördern wird.

Allerdings gibt es erfolgreiche „Trittbrettfahrer“ wie Lesen mit Lexcylce Stanza oder den Handyroman: kurze Sätze, knappe Dialoge, Links, „ich bringe mich selbst ein“ (Beispiel Oliver Bendels Handyroman). „Echte“ Literatur „2.0“ bzw. „Cyberfiction“ gibt es im Web nur für „vollfunktionsfähige“ Rechner (großer, schneller Bildschirm, reguläre Tatstatur, Maus), sind nach wie vor eine Nischensache. (z.B. Worldwatchers)

Was lässt sich aus der Forschung lernen?

  • Jugendliche lesen zu selbstbestimmten Zwecken (z.B. auch über traditionelle Trennlinien Informationen/Unterhaltung hinweg);
  • bei Gestaltung von Jugendromanen lassen sich klare Tendenzen erkennen zu Gestaltungsmitteln für das selektive Lesen, in Nachahmung digitaler Medien;
  • an dieser Entwicklung hat das eBook keinen Anteil.

Schlussfolgerungen:

  • in bestimmten Funktionen und in bestimmten Formen wird das Buch noch lange kein Auslaufmodell sein;
  • das eBook wird keine Auswirkung auf die Literatur haben.

Aber wird das Buch nicht doch geändert, z.B. durch anderes Leseverhalten in anderen Medien?

  • Veränderungen kommen zustande durch Internetnutzung. Unterscheidungen, die in manchen Studien vorgenommen werden oder wurden, z.B. zwischen „Lesen“ und „Beschäftigung mit dem Computer“ sind unsinnig, da Jugendliche am Bildschirm lesen. Weil aber selbst leuchtende Bildschirme nicht für langes Lesen geeignet sind, werden gelesene Texte kürzer – und damit evtl. auch die Bereitschaft, lange Texte zu lesen, geringer;
  • Sachbücher (z.B. „Was ist was?“) sind eindeutig an nichtlineare Formate angelehnt;
  • was wird mit wirklich komplexen Sachverhalten, wenn sie kleingehexelt werden?

Bläsi antwortet selbst, dass es gehen muss, komplexe Sachverhalte zu vermitteln, denn die Frage nach Atomendlagerung und andere harte Nüsse zu knacken, geht nicht mit Texthäppchen.

Gerlinde Schirmer-Rauwolf, stellvertretende Vorsitzende des Schrifstellerverbands VS in ver.di, wirft ein, dass Jugendlichen das eBook viel zu uncool sei, da es für die ältere Generation gemacht ist, schon allein wegen solcher Dinge wie Seitenumbruch und Schwarz/Weiß-Darstellung. Aber eBooks werden Auswirkungen auf das gedruckte Buch haben: Qualitäten des Buchs werden an ihm gemessen, z.B. Typographie, Papierqualität etc.

Verleger Dietrich zu Klampen berichtet, dass das kostenlose Buch Wolkenkoffer von Volker Hagedorn aus seinem Verlag 11.000 auf das iPhone mal geladen wurde, ein Buch, dass er für 79 Cent anbietet, 74 Mal. Eine Hürde sei – wie im klassischen Buchmarkt auch: Wie mache ich den iPhone-Nutzern das Buch bekannt? Er sehe keine großen Chancen, eBooks für das iPhone zu verkaufen.

Bläsi wirft ein, dass beim Markt für mobile Geräte Kunden eher bereit sind, Geld auszugeben, was der Erfolg der unverschämten Preisgestaltung der Netzbetreiber sei. Ein App für 79 Cent hätte für den PC niemand gekauft.

Zu Klampen antwortet, dass das seiner Ansicht nach nur möglich ist mit Programmen, die einen Nutzen haben.

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